Das duale System der Kranken- und Pflegeversicherung – ein deutsches Unikum mit Zukunft?
Aufzeichnung des WIdO-Symposiums am Donnerstag, den 4. Mai 2023
Experten erwarten ein Auslaufen des dualen Krankenversicherungssystems

v.l.: Knut Lambertin; Prof. Dr. Jonas Schreyögg, Rebecca Beerheide,
Prof. Josef Hecken, Prof. Dr. Reinhard Busse
Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), Prof. Josef Hecken, geht davon aus, dass die Trennung in gesetzliche (GKV) und private Krankenversicherung (PKV) mittelfristig keinen Bestand hat. „Wir können es uns nicht leisten, dass zehn Prozent der Bestverdienenden dauerhaft außerhalb des Systems stehen“, sagte Hecken. „Ich würde mir wünschen, wir hätten in zehn Jahren eine solidarische Vollversicherung für alle mit dem Leistungskatalog des Sozialgesetzbuches fünf.“ Extraleistungen könnten die Menschen dann über Zusatzversicherungen einkaufen. Darin sieht Hecken „ein auskömmliches Geschäft“ für Versicherungen.
Für den Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Reinhard Busse gerät das PKV-Modell durch Kostensteigerungen „immer mehr unter Druck“. Das Versprechen, „alles zu bezahlen“, sei nicht durchzuhalten. Die Zahl der PKV-Vollversicherungen sinke seit Jahren, ergänzte Busses Fachkollege Prof. Dr. Jonas Schreyögg. Dagegen boome das Geschäft mit Zusatzversicherungen. Als ersten Harmonisierungsschritt empfahl er die Angleichung der Vergütungssysteme. Der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Heinz Rothgang plädierte dafür, wegen identischer Rahmenbedingungen mit der Fusion der Pflegeversicherungen zu starten.

Prof. Dr. Heinz Rothgang, Maria Klein-Schmeink, Rebecca Beerheide, Dr. Carola Reimann
Der langjährige WIdO-Geschäftsführer Prof. Dr. Klaus Jacobs bedauerte, „dass angesichts der finanziellen Probleme über die naheliegende Lösung eines solidarischen Systems nicht ernsthaft diskutiert wird“. Ein Grund sei, „dass ein Großteil derjenigen, die sich mit der GKV beschäftigen, privat versichert sind: Beamte, Politiker, Wissenschaftler, Journalisten“. Die Unterschiede zwischen GKV- und PKV-Versicherten beträfen weniger die Versorgung selbst als vielmehr den Zugang zu Leistungen, sagte der Aufsichtsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Knut Lambertin. Einkommen und Bildung seien wichtiger als der Versichertenstatus.
In einer Forsa-Umfrage für das WIdO hatten sich 76 Prozent der gesetzlich, aber auch 48 Prozent der privat Versicherten für ein Solidarsystem ausgesprochen. „Die Ergebnisse zeigen, dass Werte wie Fairness und Gerechtigkeit hoch im Kurs stehen“, sagte die Vorstandschefin des AOK-Bundesverbandes, Dr. Carola Reimann. Die Grünen-Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink bedauerte, dass die FDP das Ausklammern des Themas zur Koalitionsvoraussetzung gemacht habe. Umso mehr müsse es jetzt um bedarfsgerechte Versorgung gehen. Die jedoch werde durch das duale System sogar behindert, betonte Jacobs. PKV-Geld fließe vor allem in ohnehin gut versorgte Gegenden.
Das Programm
Moderation:
Rebecca Beerheide, Deutsches Ärzteblatt, Leiterin politische Redaktion
Begrüßung und Einleitung
Impulsvortrag
Prof. Dr. Klaus Jacobs, ehemaliger Geschäftsführer WIdO
Folienpräsentation zum Impulsvortag von Prof. Jacobs
Talk 1
Qualität und Wirtschaftlichkeit – Versorgungsrealitäten zweier Systeme
- Prof. Dr. Reinhard Busse
Technische Universität Berlin, Wissenschaftlicher Beirat des WIdO - Prof. Josef Hecken
Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses - Knut Lambertin
Aufsichtsratsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes (Versichertenseite) - Prof. Dr. Jonas Schreyögg
Universität Hamburg, Wissenschaftlicher Beirat des WIdO
Talk 2
Solidarität und Wahloptionen – Finanz- und Versicherungsrealitäten zweier Systeme
- Maria Klein-Schmeink, MdB
stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen - Prof. Dr. Heinz Rothgang
Universität Bremen, Wissenschaftlicher Beirat des WIdO - Dr. Carola Reimann
Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes