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Gewalt erkennen und verhindern

Im Pflegealltag

Foto einer weiblichen Pflegeperson, die wütend blickt, eine Hand hebt und eine ältere Dame am Arm festhält

14.12.22 (ams). Gewalt in der Pflege tritt in unterschiedlichen Formen auf: Diese reichen von verbaler Aggression über Vernachlässigung bis zu seelischer und körperlicher Misshandlung. Wie kann es dazu kommen, dass ausgebildete Pflegefachpersonen Grenzen überschreiten? Wie können Einrichtungen vorbeugen? Wie kann die einzelne Pflegefachperson reagieren? Wichtig zu wissen: Auch pflegebedürftige Menschen können aggressiv werden - eine Herausforderung für das Pflegepersonal.

Essen hastig anreichen, Zimmer betreten, ohne anzuklopfen oder die Klingel weglegen. Schon bei diesen Verhaltensweisen bleibt die Würde des pflegebedürftigen Menschen auf der Strecke. Auch wenn er zum Beispiel unaufgefordert geduzt, im Zimmer eingeschlossen oder seine Bedürfnisse ignoriert werden. "Gewalt in der Pflege muss nicht körperlich sein", betont Werner Winter, AOK-Experte für Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF). "Gewalt hat viele Gesichter und kommt auch in der Pflege leider häufiger vor, als allgemein bekannt."

Gewalt passiert oft im Verborgenen

Jede Beziehung, die von großer Nähe und Abhängigkeit geprägt ist, ist anfällig für Gewalt. Das trifft auf Partnerschaften zu, auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und eben auch auf die Pflege - nicht nur, wenn Angehörige pflegen, sondern auch bei professionellem Pflegepersonal. So gibt fast jede dritte Pflegeperson an, dass Maßnahmen gegen den Willen von Patienten, Bewohnerinnen und Pflegebedürftigen alltäglich sind. Das besagt eine Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (DIP) von 2017. In einer Befragung von Mitarbeitenden in ambulanten Pflegediensten gaben 40 Prozent zu, sich in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal problematisch verhalten zu haben: dass sie beispielsweise lauter geworden sind, eine Einschüchterung ausgesprochen oder den Pflegebedürftigen hart angefasst haben. "Die Dunkelziffer ist dabei sicherlich hoch, denn Gewalt passiert meist im Verborgenen", so Winter. "Die davon betroffenen Menschen nehmen entwürdigende Verhaltensweisen nicht immer wahr und sind in Befragungen auch nicht immer ehrlich, weil sie sich dafür schämen." Zudem wollen und können sich die Opfer aufgrund der Abhängigkeit zu den Pflegenden und/oder kognitiver Einschränkungen oft nicht dazu äußern. So taucht Gewalt in der Pflege in Kriminalstatistiken selten auf.


Radio-O-Töne von Werner Winter, AOK-Experte für Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF)

Was gewalttätiges Verhalten in der Pflege ist

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Was Pflegepersonen selbst tun können


Anfassen, anschreien, anschnallen - viele Formen

Meistens ist Gewalt nicht so offensichtlich. Für pflegebedürftige Menschen ist es demütigend, wenn sie grob angefasst oder unbequem hingelegt werden, mit Medikamenten ruhiggestellt oder ohne Genehmigung mit Gurten angeschnallt werden. Auch anschreien, schimpfen, unter Druck setzen, beleidigen, unzureichend helfen, ausgrenzen oder Bedürfnisse übergehen sind Formen von Gewalt. Es kommt zudem vor, dass Pflegebedürftige finanziell ausgebeutet werden. Sexuelle Übergriffe sind ebenfalls nicht ausgeschlossen. "Sexualisierte Gewalt ist eine Form der Machtausübung - unabhängig von sexueller Attraktivität", betont AOK-Experte Winter. Studien weisen darauf hin, dass gerade hochaltrige Pflegebedürftige ab dem 80. Lebensjahr davon Opfer werden, also diejenigen Menschen, die besonders eingeschränkt und gebrechlich sind.

Überforderung ist eine Ursache von vielen

Das alles gehört nicht in den Pflegealltag. Dennoch passiert es und dafür gibt es vielfältige Gründe. "Überforderung - verbunden mit Zeitdruck, Personalmangel, Konflikten im Team und schlechtem Arbeitsklima - kann eine der Ursachen sein", sagt Winter. Risikofaktoren liegen aber auch bei der pflegenden Person selbst, etwa wenn sie selbst schon Gewalt erfahren hat, unter einem Alkoholproblem leidet, gesundheitliche oder finanzielle Sorgen hat. Auch wenn Pflegebedürftige demenzkrank sind, steigt das Risiko für gewaltsames Verhalten.

Gefahren benennen

Oft fehlt es in den Einrichtungen und Unternehmen an Konzepten und Strukturen, um solche Vorfälle aufzufangen oder zu verhindern. Eine Befragung des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) legt offen, dass es in knapp der Hälfte der Einrichtungen kein Personal gibt, das speziell für den Umgang mit Aggressionen und Gewalt geschult ist. Häufig bleibt das Thema sowohl im Leitbild der Einrichtung als auch im Qualitätsmanagement ausgespart. Doch auch hier gilt: "Erst wenn die Gefahr benannt wird, kann sie auch erkannt und gebannt werden", so BGF-Experte Winter.

Vorfälle aufarbeiten

Die meisten Pflegefachpersonen wünschen sich eine konstruktive Atmosphäre, die es ermöglicht, angstfrei und lösungsorientiert über problematisches Verhalten zu sprechen, wie die Befragung des ZQP zeigt. Viele wünschen sich bereits eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema in der Ausbildung zur Pflegefachperson sowie verstärkte Fortbildungsmöglichkeiten zum Umgang mit Konflikten, Aggression und Gewalt.

Tatsächlich sehen Expertinnen und Experten Trainings für die Mitarbeitenden als besonders hilfreich an, um Gewalt vorzubeugen beziehungsweise damit umzugehen. Auch kollegiale Fallbesprechungen, Supervision und eine Plattform, auf der anonym oder namentlich Gewaltereignisse gemeldet werden können, haben sich bewährt. Wünschenswert ist auch, dass jede Einrichtung eine Beauftragte oder einen Beauftragten für freiheitsentziehende Maßnahmen hat - dazu gehören zum Beispiel Bettgitter, Gurte, Ruhigstellung mit Schlafmitteln oder Psychopharmaka.

Wenn Pflegefachpersonen einen herabwürdigenden Umgang eines Kollegen oder einer Kollegin beobachten, sollten sie, wenn möglich, mit der pflegebedürftigen Person unter vier Augen sprechen und klären, wie sie die Situation empfunden hat. Auch mit der Kollegin oder dem Kollegen, die oder der sich problematisch verhalten hat, sollte gesprochen werden. "Zudem sind Pflegepersonen aufgrund des Schutzauftrags verpflichtet, den Vorfall zu melden", sagt Winter. "Am besten machen Sie sich Notizen, um ihre Beobachtungen genau festzuhalten." Bei akuter Gefahr für den pflegebedürftigen Menschen heißt es natürlich: eingreifen - möglichst ohne sich selbst in Gefahr zu bringen und gegebenenfalls die Polizei verständigen.

Unterstützung holen

Wenn Pflegepersonen an sich selbst demütigendes Verhalten beobachten, sollten sie sich ein paar Fragen stellen: Über welchen Patienten ärgere ich mich und warum? Welche Tätigkeiten mache ich ungern? Was stresst mich? Dann gilt es, sich Unterstützung zu holen, um nicht in Aggressionen abzurutschen. Fest steht: Die Gesundheitseinrichtungen haben eine Garantenpflicht, das heißt, die Pflicht, ihre Patienten, Bewohnerinnen und Pflegebedürftigen vor Gefahren für Leib und Seele zu schützen. Diese wiederum haben ein Recht auf Selbstbestimmung und Schutz der Unversehrtheit.

 

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