Medizin sollte geschlechtsspezifische Unterschiede stärker berücksichtigen
ams-Serie "Frauengesundheit" (2)
24.02.15 (ams). Frauen sind anders als Männer - das ist offensichtlich. Dennoch spielen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der klassischen Medizin bislang kaum eine Rolle. Warum es aber sinnvoll ist, diese Unterschiede stärker zu berücksichtigen, das erläutert Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Fachärztin für Innere Medizin, im Gespräch mit dem AOK-Medienservice (ams). Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Berliner Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin am Universitätsklinikum Charité und beschäftigt sich mit geschlechtsspezifischer Medizin, der sogenannten Gendermedizin.
Womit befasst sich die Gendermedizin und seit wann gibt es diese Disziplin?
Oertelt-Prigione: Die Gendermedizin ist ein junges Fachgebiet in der Medizin, das Unterschiede zwischen den Geschlechtern gezielt in den Fokus nimmt. Ziel ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse anschließend in die medizinische Diagnostik und Therapie einfließen. Die Anfänge gehen auf die Frauenbewegung in den 1960er- und 1970er-Jahren zurück. In den 1990er-Jahren entwickelte sich die Gendermedizin in den USA. Auslöser waren Studien, die beispielsweise zeigten, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen oft zu spät erkannt werden, was zu einer erhöhten Sterblichkeit führt. Ende der 1990er-Jahre schwappte das Thema nach Europa über. Die Europäische Union macht seit 2014 die Erteilung von Fördergeldern davon abhängig, dass bei Forschungsvorhaben auf geschlechtsspezifische Unterschiede geachtet wird.
Wie steht es um die Gendermedizin in Deutschland?
Oertelt-Prigione: Mittlerweile tut sich viel auf diesem Gebiet. Das Thema wird langsam immer mehr wahrgenommen. Es gibt Fortbildungen für Ärzte und geschlechtsspezifische Unterschiede werden in der Forschung stärker berücksichtigt. Allerdings gibt es noch viel Nachholbedarf. In Deutschland ist das Berliner Institut für Geschlechterforschung in der Medizin bisher das einzige Institut, das auf diesem Gebiet forscht. Und die Charité ist die einzige Universitätsklinik, an der Gendermedizin zum Pflichtprogramm im Medizinstudium gehört.
Was sind denn wichtige Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die sich auswirken können?
Oertelt-Prigione: Das betrifft ganz verschiedene Bereiche und Aspekte - vom Umgang mit Gesundheit und Gesundheitsangeboten über Symptome bei bestimmten Erkrankungen bis hin zu körperlichen Vorgängen. Zum Beispiel gehen Frauen häufiger zum Arzt als Männer und nehmen Früherkennungsangebote stärker wahr. Sie haben meist facettenreichere Beschwerdebilder und nehmen Symptome anders wahr, beschreiben sie dem Arzt also auch anders, als Männer es tun. Aber auch körperliche Abläufe sind bei den Geschlechtern unterschiedlich. So ist ein Test auf Blut im Stuhl bei Frauen weniger aussagekräftig als bei Männern, weil bestimmte Abläufe im Darm bei Frauen länger dauern. Auch die Ergebnisse von Blutzuckermessungen können wegen physiologischer Unterschiede bei Frauen und Männern anders ausfallen.
Sie haben erwähnt, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen häufig zu spät erkannt werden. Woran liegt das?
Oertelt-Prigione: Frauen zeigen bei einem Herzinfarkt zum Teil andere Symptome als Männer. Bei Männern deuten typischerweise Schmerzen im Brustbereich, auf den Arm ausstrahlende Schmerzen und ein Druckgefühl auf einen Infarkt hin. Frauen zeigen solche Symptome weniger häufig. Warnsignale können bei ihnen auch nur Übelkeit, allgemeine Schwäche, Schwindel und Luftnot sein. Mittlerweile sind diese Symptome bekannter, aber früher wurde ein Herzinfarkt bei Frauen häufig nicht sofort erkannt.
Mit welchen Folgen?
Oertelt-Prigione: Es wurde kein Rettungswagen gerufen und kein EKG gemacht. Das Risiko von Frauen, an einem Herzinfarkt zu sterben, war dadurch sehr hoch. Noch immer glauben viele Patientinnen, dass die Wahrscheinlichkeit für sie höher ist, an Brustkrebs zu sterben als an einem Herzinfarkt. Das ist aber nicht so. Zwar erleiden insgesamt mehr Männer einen Herzinfarkt. Von den Frauen, die einen Infarkt haben, sterben aber mehr daran. Besonders bei Frauen unter 55 Jahren werden Herzprobleme noch immer unterschätzt. Auch die Risikofaktoren sind unterschiedlich ausgeprägt. Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass Rauchen und Diabetes das Risiko, einen Herzinfarkt zu bekommen, bei Frauen stärker erhöhen als bei Männern.
Wie sieht es denn in der Arzneimittelforschung und -therapie aus?
Oertelt-Prigione: Bis vor Kurzem wurden meistens junge, gesunde Männer zu Forschungszwecken herangezogen. Jetzt müssen bei der Erprobung neuer Medikamente laut Vorgabe der Europäischen Zulassungsbehörde in klinischen Studien mehr Frauen einbezogen werden. Das ist auch dringend nötig. Denn aufgrund von biologischen und physiologischen Unterschieden können Arzneimittel bei Frauen anders wirken und werden anders vertragen. Beispielsweise kann sich auswirken, dass Frauen häufig weniger wiegen. Ihre Leber verarbeitet außerdem Wirkstoffe anders. Auch der niedrigere Säuregehalt im Magen wirkt sich anders aus. Um ein Beispiel zu nennen: Bestimmte Wirkstoffe, die in manchen Antibiotika und in Mitteln gegen Übelkeit nach einer Chemotherapie stecken, können bei Frauen häufiger zu Herzrhythmusstörungen führen. Männer haben damit weniger Probleme.
Was wollen Sie erreichen?
Oertelt-Prigione: Ich wünsche mir, dass geschlechtsspezifische Unterschiede deutlich stärker berücksichtigt werden - sowohl in der Forschung als auch in der Diagnostik und Therapie. Bei Arzneimitteln würde es enorm helfen, Nebenwirkungen geschlechtsspezifisch zu erfassen. Mittlerweile gibt es viele Studienergebnisse auf diesem Gebiet. Wir arbeiten derzeit daran, belastbare Daten zusammenzustellen. Unser Ziel ist es, dass sie künftig in medizinische Leitlinien einfließen.
Können Frauen selbst das Augenmerk auf mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede lenken?
Oertelt-Prigione: Patientinnen, aber auch Patienten, könnten durchaus ihre behandelnden Ärzte fragen, ob ihr Geschlecht bei bestimmten Untersuchungen, Testergebnissen, Diagnosen oder Behandlungen eine Rolle spielen kann. Niedergelassenen Medizinern empfehle ich, sich auf diesem Gebiet fortzubilden. Gendermedizin sollte regulärer Bestandteil der Medizinerausbildung werden.