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Klauber: Nur wenn ein fairer Klinik-Vergleich möglich ist, werden Daten veröffentlicht
ams-Interview mit Jürgen Klauber, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zur Qualitätssicherung mit Routinedaten

Jürgen Klauber
02.02.23 (ams). Vertreter von Universitätskliniken und vom Verband der Universitätsklinika (VUD) haben sich in Medienberichten kritisch über das Verfahren zur Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR) des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) geäußert. Auf Basis des QSR-Verfahrens informiert die AOK in ihrem Gesundheitsnavigator über die Qualitätsunterschiede zwischen Kliniken bei bestimmten Operationen und Behandlungen. Zum Vorwurf, die Risikoadjustierung im QSR-Verfahren sei nicht ausreichend und Routinedaten nicht für die Qualitätsbewertung geeignet, äußert sich WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber im Interview mit dem AOK-Medienservice (ams). Alle Schritte des Bewertungsverfahrens erfolgten in enger Abstimmung mit medizinischen Expertenpanels.
Herr Klauber, einige Vertreter von Universitätsklinika zeigen sich überrascht, dass sie bei bestimmten Operationen schlecht abschneiden. Wie kann es sein, dass solche Kliniken, die den Anspruch haben, Spitzenmedizin anzubieten, bei manchen Eingriffen wie Blindarmentfernungen oder Mandeloperationen im Gesundheitsnavigator unterdurchschnittlich bewertet werden?
Klauber: Zunächst muss man sagen, dass Universitätskliniken nicht automatisch bei jedem Eingriff immer die beste Versorgungsqualität bieten. Generell gilt, dass Universitätskliniken bei der Gesamtbewertung in den QSR-Leistungsbereichen nicht systematisch schlechter abschneiden als andere Kliniken. Es gibt Universitätskliniken in allen QSR-Bewertungskategorien, so dass einige Kliniken in einigen Leistungsbereichen auch unterdurchschnittliche Ergebnisse haben.
Unbestritten findet in den Universitätsklinika Spitzenmedizin statt – und sie haben gerade bei der Behandlung von relativ seltenen oder komplizierten Erkrankungen großes Know-how. Im QSR-Verfahren betrachten wir aber in erster Linie die besonders häufig vorkommenden OPs, die als „Routine-Eingriff“ gelten, aber trotzdem mit Risiken für die Patientinnen und Patienten verbunden sind. Bei diesen Eingriffen sind die Fallzahlen von Universitätsklinika nicht unbedingt höher als in spezialisierten Kliniken. Nimmt man das Beispiel der Orthopädie, so ist hier der Zusammenhang zwischen Fallzahl und Behandlungsergebnis für die endoprothetischen Eingriffe an Hüfte und Knie wissenschaftlich klar belegt. Es kommt vor allem auf die Routine und die Erfahrung im Team an - und da kann es durchaus sein, dass eine orthopädische Fachklinik mit entsprechender Fallzahl besser abschneidet als eine Uniklinik.
Die Unterschiede bei den Komplikationsraten zwischen den Krankenhäusern sind übrigens erheblich. Das „schlechteste“ Viertel der Kliniken hat meist mindestens doppelt so hohe Komplikationsraten wie das „beste“ Viertel.
Wenn eine Klinik ihre Ergebnisse nicht nachvollziehen kann, können sich die Verantwortlichen jederzeit an uns wenden – dann gehen wir der Sache nach. Dies kann dann auch zur Nachschärfung der Bewertungs-Regelungen führen.
Die Klinik-Vertreter argumentieren, die Risikoadjustierung im QSR-Verfahren sei nicht ausreichend. So würde zum Beispiel bei der Bewertung nicht berücksichtigt, dass Universitätsklinika mehr schwere Fälle mit Komplikationen behandelten als andere Krankenhäuser. Was halten Sie dieser Argumentation entgegen?
Klauber: Ich möchte erst einmal betonen, dass alle Schritte des Bewertungsverfahrens in enger Abstimmung mit medizinischen Expertenpanels vollzogen werden. Hier sind in der Regel neben anderen Experten auch Vertreterinnen und Vertreter von Universitätsklinika beteiligt. Die Fachpanels sind das Herzstück des QSR-Verfahrens. Die Expertinnen und Experten aus der Praxis definieren die Aufgreifkriterien für die Leistungen und erarbeiten die Indikatoren für die Qualitätsbewertung. Die Expertenpanels begleiten die QSR-Leistungsbereiche auch nach der Entwicklung im Routinebetrieb weiter. In der jährlichen Überprüfung werden auch Hinweise und Rückmeldungen von Kliniken, Fachgesellschaften und Einzelpersonen beraten.
Bei der Entwicklung der Indikatoren in den Panels geht es wesentlich auch darum, wie man Verzerrungen der Ergebnisse durch die unterschiedlichen Patientenmerkmale in den verschiedenen Kliniken mittels Risikoadjustierung ausgleichen kann. So wird bei der Festlegung der betrachteten Leistungen darauf geachtet, dass besonders komplizierte Konstellationen nicht in die QSR-Bewertung eingehen. Weiterhin werden dann bei der Berechnung der Ergebnisse je nach Leistungsbereich unter anderem auch spezielle Faktoren wie der Behandlungsanlass, der Schweregrad der Erkrankung, das angewendete Operationsverfahren, Begleiterkrankungen oder andere Behandlungen vor dem Eingriff berücksichtigt. Dabei kommen etablierte statistische Methoden zur Anwendung.
Nur wenn das Expertenpanel zu der Einschätzung gelangt, dass ein fairer Vergleich möglich ist, erfolgt eine öffentliche Berichterstattung. Bei den entsprechenden Beschlüssen der Panels hat das WIdO übrigens kein Stimmrecht.
Die Wirkung der QSR-Risikoadjustierung wird jährlich im Rahmen einer Revision der Indikatoren auch daraufhin überprüft, ob Auffälligkeiten bei bestimmten Klinikgruppen wie Unikliniken, Maximalversorger oder Fachkliniken bestehen.
Haben Sie auch ein Angebot für Kliniken, die sich mit ihren QSR-Ergebnissen näher beschäftigen wollen?
Klauber: Ja, wir wollen den Kliniken mit unserem QSR-Verfahren auch eine Basis bieten, um Qualitäts-Defizite bei bestimmten Operationen zu erkennen und anzugehen. Dazu gibt es einen Klinikbericht, in dem jedes Jahr die aktualisierten QSR-Ergebnisse individuell für das einzelne Krankenhaus aufbereitet werden. Dieser hat für die Kliniken einen erheblichen Mehrwert, da die Kliniken sonst nur die Daten aus dem kurzen stationären Aufenthalt vorliegen haben. Im QSR-Bericht sehen sie aber auch, in welchem Umfang Komplikationen nach der Entlassung hinzugekommen sind.
Im Übrigen ist jeder öffentlichen Berichterstattung im Gesundheitsnavigator der AOK eine einjährige Einführungsphase vorgeschaltet, in der die Krankenhäuser die Möglichkeit haben, Ergebnisse zu hinterfragen und in den Dialog mit dem WIdO einzutreten. Seit mehr als zehn Jahren informiert die AOK in einem eingespielten Verfahren zunächst die Kliniken und veröffentlicht die QSR-Ergebnisse erst danach im Navigator. Neben der öffentlichen Berichterstattung gibt es im QSR-Verfahren auch mehrere Leistungsbereiche, in denen zwar Komplikationsraten erhoben und den Kliniken mitgeteilt werden, die aber wegen nicht ausreichender Risikoadjustierung nicht im Gesundheitsnavigator veröffentlicht werden.
Die Kritiker befürchten, dass Kliniken aus Angst vor einer öffentlichen Negativ-Bewertung künftig besonders komplizierte Fälle ablehnen könnten. Ist diese Befürchtung aus Ihrer Sicht berechtigt?
Klauber: Diese Aussage unterstellt ja, dass das QSR-Verfahren nicht adäquat funktionieren würde. Sie geht davon aus, dass nicht berücksichtigte kompliziertere Fälle eine Klinik bei der QSR-Bewertung relativ zu anderen Kliniken schlechter stellen würden. Das verhindern wir aber durch die beschriebenen Verfahren. Eine nicht ausreichende Risikoadjustierung führt dazu, dass die Ergebnisse von den zuständigen Expertenpanels nicht für die öffentliche Berichterstattung im Navigator freigegeben werden.
Im Übrigen darf die mitschwingende Logik, öffentliche Qualitätstransparenz beeinflusse das Marktverhalten der Krankenhäuser negativ, nicht verfangen. Leistungstransparenz und bewusste Klinikwahl der Patienten sollen schließlich dazu beitragen, eine gute Qualität der stationären Versorgung in der Zukunft zu sichern.
Wenn einzelne Kliniken in bestimmten Leistungsbereichen öfter deutlich erhöhte Komplikationsraten haben, die in einem wissenschaftlich validen Verfahren ermittelt wurden, ist es aus meiner Sicht ethisch nicht vertretbar, diese Informationen nicht zu veröffentlichen.
Der Verband der Universitätsklinika hält es für ein Kernproblem, dass das WIdO bei seinen Auswertungen Daten verwendet, die nicht für die Qualitätsbewertung erhoben werden, sondern zur Abrechnung der Klinikleistungen. Ist das nicht tatsächlich ein Problem?
Klauber: Das ist eine uralte Diskussion, von der wir denken, dass sie eigentlich längst beendet und zugunsten der Nutzung von Routinedaten entschieden ist. Die Nutzung von Routinedaten in der Qualitätsmessung und Qualitätsforschung ist mittlerweile in Deutschland und international fest etabliert.
Die Studienlage verweist auf ein breites Spektrum von aufwandsarmen Nutzungsmöglichkeiten der Routinedaten zur Qualitätssicherung und für die Versorgungsforschung. Dies wird unter anderem auch durch eine Vielzahl von Projekten des Innovationsfonds deutlich.
In Deutschland bekennt sich nicht nur die Initiative Qualitätsmedizin IQM, ein Zusammenschluss von rund 500 Kliniken aller Trägergruppen, klar zur Nutzung von Routinedaten und speziell auch der QSR-Indikatoren. Auch das Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen, also das Institut zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Qualitätssicherung, setzt zunehmend auf den Weg der Nutzung von Routinedaten. Dass man dabei immer methodisch sorgfältig mit den Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung von Routinedaten umgehen muss, sollte in allen Projekten eine Selbstverständlichkeit sein.