Lesedauer: 2 Minuten

Malzahn: Spezialisierung ist in Europa geübte Praxis

Versorgung von Frühgeborenen: Drei Fragen an Dr. Jürgen Malzahn, Leiter der Abteilung Stationäre Versorgung im AOK-Bundesverband

Foto: Dr. Jürgen Malzahn, Leiter der Abteilung Stationäre Versorgung

Dr. Jürgen Malzahn

09.11.22 (ams). Bereits Ende 2020 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) beschlossen, die Mindestmenge zur Behandlung von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1.250 Gramm von bisher 14 Behandlungen auf 25 anzuheben. In einem Zwischenschritt wird die Mindestmenge 2023 zunächst auf 20 Fälle pro Jahr erhöht. Das hat jetzt erste Konsequenzen. Im Zuge dessen verlieren nächstes Jahr bundesweit sechs Klinik-Standorte die Erlaubnis, Frühgeborene mit besonders geringem Geburtsgewicht zu versorgen. „Es geht darum, die bestmögliche Behandlung der Kinder durch erfahrene Teams zu erreichen“, sagt Dr. Jürgen Malzahn, Leiter der Abteilung Stationäre Versorgung im AOK-Bundesverband im Interview mit dem AOK-Medienservice (ams).

Herr Dr. Malzahn, warum ist es aus Sicht der AOK eine gute Entwicklung, wenn Klinik-Abteilungen aus der Versorgung ausscheiden?

Malzahn: Bei der Festlegung der Mindestmengen durch den GBA handelt es sich ja letztlich um einen normativen Akt – vergleichbar mit der Geschwindigkeitsbegrenzung auf Straßen. Aber genau wie die Geschwindigkeitsbegrenzung hat dieser normative Akt gute Gründe. Sie ergeben sich aus der aktuellen Studienlage. Erst jüngst hat eine wissenschaftliche Publikation des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen bestätigt, das es bei der Frühchen-Versorgung einen generellen Zusammenhang zwischen der Fallzahl und den Behandlungsergebnissen gibt: In Kliniken, die viele Fälle pro Jahr versorgen, ist im Mittel eine niedrigere Sterblichkeit bei den sehr kleinen Frühgeborenen festzustellen.

Das ist kein Zufall, sondern medizinisch plausibel. Denn bei diesen hochkomplexen Behandlungen braucht es neonatologische Erfahrung im gesamten Behandlungsteam. Alle Beteiligten müssen gemeinsam schnell und richtig reagieren, wenn es zu Komplikationen kommt. Und das bekommt man nur mit der entsprechenden Erfahrung hin.

Nun kann es sein, dass eine Klinik im Einzelfall trotz geringer Fallzahl gute Behandlungsergebnisse erzielt – aber das ist dann eben eher die Ausnahme als die Regel. Im Informationsportal perinatalzentren.org wird das alles transparent gemacht, hier können sich alle Interessierten informieren.

Die Gegner der Abteilungs-Schließungen argumentieren, dass eine wohnortnahe Versorgung der Frühgeborenen sichergestellt werden müsse. Ist das nicht ein Argument dafür, Abteilungen trotz geringer Fallzahlen offen zu halten?

Malzahn: Sicherlich muss man sich jeden Einzelfall genau anschauen, um zu verhindern, dass es in bestimmten Regionen zu einer Unterversorgung kommt. Dabei ist aber zu bedenken, dass Frühgeburten sich in der Regel ankündigen. Dann findet frühzeitig eine sogenannte pränatale Verlegung statt. Das heißt, dass die werdenden Mütter bereits vor der Einbindung in ein Perinatalzentrum oder zumindest in dessen Nähe gebracht werden. So können sie sich darauf verlassen, dass ihr Kind von einem erfahrenen Team versorgt wird. Das ist übrigens auch in anderen europäischen Ländern geübte Praxis. So gibt es die niedrigste Säuglings- und Müttersterblichkeit Europas in Finnland, wo die Geburtshilfe auf weniger als zehn Standorte konzentriert ist.

Insofern zieht das Argument der wohnortnahen Versorgung bei der Frühgeborenen-Versorgung nicht wirklich. Es geht doch darum, die bestmögliche Behandlung der Kinder durch erfahrene Teams zu erreichen – und die kann man mit pränatalen Verlegungen auch bei weiteren Entfernungen gewährleisten.

Warum engagiert sich die AOK bei dem Thema mit der Veröffentlichung der Mindestmengen-Transparenzkarte und der entsprechenden Transparenzlisten?

Malzahn: Wir veröffentlichen die Ergebnisse der aktuellen Mindestmengen-Entscheidungen ja inklusive der von den einzelnen Kliniken gemeldeten Fallzahlen, die Basis für diese Entscheidungen waren. Die aktuellen Fallzahlen können Patientinnen und Patienten und einweisenden Ärzten wichtige Hinweise auf die Routine der operierenden Ärzte geben. Denn eine positive Prognose konnten auch Kliniken erhalten, die die notwendige Zahl von OPs aus organisatorischen oder personellen Gründen nicht erbracht haben – aber glaubhaft nachweisen konnten, dass die Gründe dafür ausgeräumt wurden. In den letzten Entscheidungs-Runden wurden auch die Covid-19-Pandemie und die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Erfüllung der Mindestmengen berücksichtigt. Unsere Transparenzkarte macht das alles sichtbar.


Zum ams-Politik 11/22