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Bewertung des Kabinettsbeschlusses
GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG)

15.08.22 (ams). Am 27. Juli 2022 hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-Finanzstabilisierungsgesetz – GKV-FinStG) beschlossen. Der AOK-Bundesverband sieht kaum wesentliche Verbesserungen im Vergleich zum Referentenentwurf. Allenfalls kosmetische Anpassungen verstärkten den Eindruck, „dass das Ziel einer nachhaltigen Finanzierung der GKV weit verfehlt wird“, kritisiert Vorstandsvize Jens Martin Hoyer. Die strukturellen Probleme blieben ungelöst. Die Hauptlast müssen die Beitragszahlenden tragen: „Das ist eine fundamentale Ungerechtigkeit gegenüber unserer Solidargemeinschaft und gefährdet die Funktionsfähigkeit der gesamten GKV“, so Hoyer.
Über die Erhöhung der Zusatzbeiträge (4,8 Milliarden Euro), das fast vollständige Abschmelzen der verbliebenen Kassenrücklagen (vier Milliarden Euro), den weiteren Abbau der Liquiditätsreserve (2,4 Milliarden Euro) des Gesundheitsfonds sowie die Aufnahme eines von den Beitragszahlenden zurückzuzahlenden Darlehens des Bundes (1 Milliarde) sollen auf der Einnahmeseite rund 12 Milliarden Euro zusätzlich generiert werden. Auch seien die Stabilisierungsmaßnahmen auf der Ausgabenseite noch unzureichend. „Im Arzneimittelbereich geht das zwar in die richtige Richtung. Insgesamt bräuchte es aber eine echte Nullrunde bei allen Leistungserbringenden. Auf diese Weise ließen sich in Kombination mit der Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel Einsparungen von rund zehn Milliarden Euro realisieren. Der AOK-Medienservice dokumentiert die wichtigsten Maßnahmen des Gesetzentwurfes und die jeweilige Bewertung durch den AOK-Bundesverband.
Erneute Abschmelzung der Finanzreserven
90 Prozent der Finanzreserven oberhalb von 0,3 Monatsausgaben und 65 Prozent der Finanzreserven zwischen 0,2 und 0,3 Monatsausgaben sollen 2023 ähnlich wie bereits 2021 eingezogen und dem Gesundheitsfonds zugeführt werden.
Die AOK-Gemeinschaft lehnt den geplanten Einzug vollumfänglich ab und begründet das mit drohender Zahlungsunfähigkeit und dem daraus folgenden Insolvenz-Tatbestand. Die bereits durch das „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz“ (GKV-FKG) abgesenkte Mindestrücklage auf lediglich 0,2 Monatsausgaben sei für einen Ausgleich unterjähriger Schwankungen nicht ausreichend. Durch den erneuten Rückgriff auf die Rücklagen würden die Kassen nah an diese viel zu niedrige Untergrenze von 0,2 Monatsausgaben herangeführt. Allein eine negative Finanzentwicklung in 2022, so die Argumentation, führe direkt zur Unterschreitung der Mindestrücklage und damit zu höherem Finanzbedarf der betroffenen Kassen im Jahr 2023. Die Folge sei eine drastische Anpassung des Zusatzbeitrags, dessen zeitversetzte Wirkung die sofortige Absicherung dieser Risiken gar nicht gewährleiste. Der Rücklagenzugriff verstößt laut AOK-Bundesverband gegen verfassungsrechtliche Vorgaben, weil er die organisatorische und finanzielle Selbstständigkeit der Krankenkassen als öffentliche Körperschaften verletzt.
Senkung der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds
Die Obergrenze der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds soll von 50 auf 25 Prozent einer Monatsausgabe halbiert werden. Gleichzeitig wird festgelegt, dass etwaige, die Obergrenze überschreitende Mittel vollständig in die Einnahmen des Gesundheitsfonds im Folgejahr überführt werden. Überschüssige Mittel des Gesundheitsfonds werden damit dauerhaft an die Krankenkassen als zusätzliche Zuweisungen ausgeschüttet.
Durch die Absenkung der Liquiditätsreserve würden Beitragsmittel der Solidargemeinschaft zur Beseitigung des GKV-Defizits herangezogen. Auch hierbei handelt es sich um Mittel der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Daher lehnt der AOK-Bundesverband die geplante Regelung ab.
Darlehensaufnahme des Gesundheitsfonds mit Rückzahlungsverpflichtung 2026
Diese Regelung findet sich ausschließlich im Haushaltsgesetz 2023 wieder. Die GKV über Darlehen zu finanzieren, stellt aus Sicht des AOK-Bundesverbandes einen Systembruch mit der Umlagefinanzierung dar. Des Weiteren ist zu beachten, dass das Darlehen – um als Einnahme Wirkung für die Zuweisungen 2023 zu entfalten – in Paragraf 271 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) als Einnahme des Gesundheitsfonds ergänzt werden muss. Dieses Darlehen ist von den Beitragszahlenden im Jahr 2026 zurückzuzahlen. Es handele sich damit nur um eine Verschiebung des Problems, so der AOK-Bundesverband.
Erhöhung der Zusatzbeitragssätze 2023
Die bereits angekündigte Erhöhung der Zusatzbeitragssätze um 0,3 Prozentpunkte belastet ausschließlich die Beitragszahlenden. Der Schätzerkreis wird sich im Oktober 2022 mit der Einnahmen- und Ausgabenentwicklung des Jahres 2022 und der Prognose des Jahres 2023 befassen. Ob die angekündigte Erhöhung „auskömmlich“ ist, bleibt abzuwarten.
In diesem Zusammenhang fordert der AOK-Bundesverband ergänzende Regelungen: Erhöht eine Krankenkasse den kassenindividuellen Zusatzbeitrag, haben Mitglieder bisher das Recht, ihre Mitgliedschaft zu kündigen, ungeachtet der gesetzlichen zwölfmonatigen Bindungsfrist. Aus Sicht der AOK-Gemeinschaft muss das Sonderkündigungsrecht für 2023 ausgesetzt werden, da sich die Krankenkassen aufgrund der im GKV-FinStG vorgesehenen Änderungen und nicht selbstverschuldet, etwa durch unwirtschaftliches Handeln, zur Erhöhung des Zusatzbeitragssatzes genötigt sehen. Diese Forderung aus der Stellungnahme zum Referentenentwurf fand bisher keine Berücksichtigung.
Austauschbarkeit biologischer Referenzarzneimittel durch Apotheken
Die Umsetzungsfrist für den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) die bestehenden Richtlinien um Hinweise für Apotheken zu erlassen, wird um ein Jahr bis zum 16. August 2023 verlängert und zunächst auf parenterale Zubereitungen (z.B. Infusionen, Sondennahrung) beschränkt. Die Entscheidung über den Austausch biologischer Arzneimittel durch im Wesentlichen gleiche biotechnologisch hergestellte Arzneimittel liegt bis dahin weiter in ärztlicher Hand.
Die Umsetzungsfrist für den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) die bestehenden Richtlinien um Hinweise für Apotheken zu erlassen, wird um ein Jahr bis zum 16. August 2023 verlängert und zunächst auf parenterale Zubereitungen (z.B. Infusionen, Sondennahrung) beschränkt. Die Entscheidung über den Austausch biologischer Arzneimittel durch im Wesentlichen gleiche biotechnologisch hergestellte Arzneimittel liegt bis dahin weiter in ärztlicher Hand.
Senkung der Umsatzschwelle bei Arzneimitteln für seltene Erkrankungen
Die Umsatzschwelle für eine vollständige Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit einer Zulassung zur Behandlung seltener Erkrankungen soll auf 20 Millionen Euro gesenkt werden. Bisher mussten diese sogenannten „Orphan Drugs“ erst ab einem Umsatz von 50 Millionen Euro zwingend einer Nutzenbewertung unterzogen werden. Bis dahin gilt der Zusatznutzen bereits mit der Zulassung als belegt.
Der AOK-Bundesverband spricht von einem Schritt in die richtige Richtung, hält aber eine vollständige Aufhebung der Regelung aus Gründen der Arzneimittel- und Therapiesicherheit sowie der Entbürokratisierung für geboten.
Erhöhung des Herstellerabschlags
Der Abschlag, den die Krankenkassen von den pharmazeutischen Unternehmen für verordnete Arzneimittel erhalten, steigt für ein Jahr (2023) von sieben auf zwölf Prozent.
Der AOK-Bundesverband hatte in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf eine solche Regelung vorgeschlagen, weil sie verwaltungstechnisch leichter umzusetzen sei als die ursprünglich vorgesehene Solidaritätsabgabe für Pharma-Unternehmen. Die zeitliche Begrenzung nimmt dem Instrument aus AOK-Sicht jedoch die finanzielle Wirkung. Die AOK schlägt daher eine Erhöhung auf 16 Prozent vor.
Erhöhung des Apothekenabschlags
Der Abschlag für die in Apotheken abgegebenen verschreibungspflichtigen Arzneimittel und Zubereitungen von aktuell 1,77 Euro wird für zwei Jahre auf 2,00 Euro erhöht.
Die schwierige Finanzsituation der GKV rechtfertigt es aus Sicht des AOK-Bundesverbandes, auch die Apotheken in die Pflicht zu nehmen, die Ausgabenlast der GKV zu mindern.
Verlängerung des Preismoratoriums
Das Preismoratorium gilt seit 2010 für alle Medikamente, die vor Einführung dieser gesetzlichen Maßnahme bereits auf dem Markt waren und zulasten der GKV abgerechnet werden. Preisstichtag ist der 1. August 2009, für später auf den Markt
gebrachte Arzneimittel gilt der jeweilige Einführungspreis als Referenz. Das Preismoratorium soll nun über das Jahr 2022 hinaus bis zum 31. Dezember 2026 verlängert werden.
Die Verlängerung des Preismoratoriums ist eine langjährige Forderung der AOK zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben.
Preisverhandlungen und Erstattungsbeträge für Arzneimittel
Künftig sollen auch mengenbezogene Aspekte in den Vereinbarungen mit dem GKV-Spitzenverband zum dem Erstattungsbetrag verpflichtend enthalten sein. Stehen für ein Arzneimittel bei Inverkehrbringen keine wirtschaftlichen Packungsgrößen zur Verfügung, so dass mehr als 20 Prozent des Packungsinhalts nicht genutzt werden, ist dieser Verwurf preismindernd zu berücksichtigen. Die Regelungen zur Festlegung des Erstattungsbetrags werden konkretisiert. Mehrkosten für neue Arzneimittel sollen lediglich bei relevantem Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie vereinbart werden können. Für die Festlegung des Erstattungsbetrags sind konkrete Vorgehensweisen für verschiedene Fallkonstellationen vorgesehen. Dabei soll künftig auch wieder auf die wirtschaftlichste unter mehreren zweckmäßigen Vergleichstherapien abgestellt werden. Soweit ein patentgeschütztes, jedoch nicht nutzenbewertetes Arzneimittel als zweckmäßige Vergleichstherapie herangezogen wird, wird es mit 15 Prozent Abschlag auf die Jahrestherapiekosten berücksichtigt. Der ausgehandelte Erstattungsbetrag soll künftig rückwirkend ab dem siebten und nicht mehr wie bisher erst ab dem 13. Monat gelten.
Die Berücksichtigung mengenbezogener Aspekte begrüßt der AOK-Bundesverband. Insbesondere unwirtschaftliche Packungsgrößen seien nicht nachhaltig, sondern verschwendeten Ressourcen sowie Beitragsgelder und verursachten unnötigen, teuer zu entsorgendem Müll. Die 20-prozentige „Bagatellgrenze“ beim Verwurf ist aus AOK-Sicht zu niedrig angesetzt. Zudem sollten auch andere Kriterien Berücksichtigung finden, die zur Nichtnutzung von Arzneimitteln führen, wie etwa zu niedrig angesetzte Haltbarkeitsangaben. Drittens schließlich hält der AOK-Bundesverband diese mengenbezogenen Aspekte für nicht adäquat für Verhandlungen und schlägt deshalb vor, „für eine solche Ressourcenverschwendung“ grundsätzlich das jeweilige Pharma-Unternehmen zur Kostenübernahme jeglicher nicht mehr weiterverarbeitungsfähigen Ware zu verpflichten, zumindest aber einen verwurfsbedingten Abschlag auf den Erstattungsbetrag festzusetzen.
Die Neuregelung des Preisverhandlungsmechanismus für neue Arzneimittel und die erweiterte Berücksichtigung unterschiedlicher Zusatznutzen, ist eine langjährige AOK-Forderung. Allerdings sieht der AOK-Bundesverband weiteren Regelungsbedarf, weil eine Regelungslücke entstehe, wenn es sich ich bei der wirtschaftlichsten zweckmäßigen Vergleichstherapie um Arzneimittel ohne Patent- bzw. Unterlagenschutz handele. Die verkürzte Rückwirkung des ausgehandelten Erstattungsbetrags nennt die AOK „dringend und „überfällig“, sieht diesen Schritt aber allenfalls als „Einstieg“. Die bisherige Regelung als GKV weiterhin „initial jeden vom Hersteller geforderten Preis akzeptieren zu müssen“, sei europaweit einzigartig und ein „nicht mehr zeitgemäßes Relikt“. Ziel bleibe jedoch, „die Rückwirkung des Erstattungsbetrags zum Markteinstieg einzuführen“, um überhöhte Preise im ersten Halbjahr zu vermeiden. Deshalb soll ein „Interimspreis“ als vorläufiger Preis ab Marktzugang in Höhe der zweckmäßigen Vergleichstherapie helfen, ungerechtfertigte Überzahlungen zu verhindern.
Vergütung zahnärztlicher Leistungen
Die Punktwerte für zahnärztliche Leistungen ohne Zahnersatz und die Gesamtvergütungen dürfen 2023 nur um die um 0,75 Prozentpunkte verringerte Veränderungsrate der Grundlohnsumme steigen, 2024 dann um das Doppelte (1,5 Prozentpunkte). Individualprophylaxe und Früherkennungsuntersuchungen sind hiervon ausgenommen.
Die Ausnahmeregelung für den Zahnersatz erschließt sich dem AOK-Bundesverband nicht. Darüber hinaus sind die prognostizierten Einsparungen durch diese Maßnahme eher gering. Ein wesentlicher Beitrag zur Realisierung von Finanzreserven kann nur erreicht werden, wenn die Vergütung der zahnärztlichen Leistungen für die Jahre 2023 und 2024 gegenüber der Vergütung des Jahres 2022 unverändert bleibt.
Aufhebung der Neupatienten-Regelung
Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) von 2019 sieht vor, die Behandlung von Patientinnen und Patienten, die erstmalig oder das erste Mal seit zwei Jahren in die Arztpraxis kommen, außerhalb der ambulanten Gesamtvergütung zu honorieren. Diese Regelung soll wieder abgeschafft werden.
Die im TSVG vorgesehene extrabudgetäre Vergütung bestimmter Facharztgruppen für offene Sprechstunden ohne vorherige Terminvereinbarung wird begrenzt. Die Fallzahlen eines Quartals dürfen die Fallzahlen des jeweiligen Vorjahresquartals nicht um mehr als drei Prozentpunkte übersteigen.
Der AOK-Bundesverband spricht von einem sachgerechten Schritt zu einer wirtschaftlichen, zweckmäßigen und ausreichenden Versorgung, wie sie das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) vorsieht. Allerdings werde der Gefahr von Verlagerungseffekten von der künftig abgeschafften Neupatienten-Regelung zur offenen Sprechstunde nicht ausreichend begegnet.
Notfall-Ersteinschätzung
Die Frist des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Erarbeitung von Vorgaben zur Ersteinschätzung zur Behandlung eines Notfalls wird um fast ein Jahr bis zum 30. Juni 2023 verlängert.
Da die derzeit vorgeschriebene Frist nicht gehalten werden konnte, erachtet der AOK-Bundesverband die Verlängerung anstelle einer Ersatzvornahme durch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) als sinnvoll, drängt aber auf eine zügige Lösung.
Konkretisierung der im Pflegebudget berücksichtigungsfähigen Berufsgruppen
Ab dem Jahr 2024 dürfen nur noch die Personalkosten qualifizierter Pflegekräfte, die in der unmittelbaren Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen eingesetzt sind, außerhalb der Fallpauschalen im Pflegebudget (aDRG) berücksichtigt werden können.
Die Regelungen stellen für den AOK-Bundesverband einen richtigen und wichtigen Schritt hin zu einer eindeutigeren Definition des Pflegebudgets dar. So könnten bisherige Fehlentwicklungen korrigiert und strategische Umbuchungen der Kliniken im Vorfeld der gesetzlichen Anpassungen minimiert werden. Die AOK sieht allerdings auch die Gefahr, dass eine einheitliche Definition der „Kosten von Pflegepersonal, das überwiegend in der unmittelbaren Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen tätig ist“ schwierig sein wird und die Notwendigkeit gesetzliche Nachbesserungen bereits jetzt absehbar sind. Die geplanten Regelungen werden erst im Jahr 2024 zur Entlastung der GKV beitragen.
Zudem werden Regelungen zum Abbau des bestehenden Budgetstaus vermisst, der sich aufgrund der aktuellen Regelungen zur Berechnung des Pflegebudgets ergibt.