Zuckerkrankheit steht dem Rauchen in nichts nach
ams-Hintergund: Teurer Diabetes

15.04.16 (ams). Diabetes belastet die deutschen Sozialkassen mit 35 Milliarden Euro pro Jahr. Das schätzt die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG). Die Summe sei vergleichbar mit den Folgekosten des Rauchens. "Es ist dringend notwendig, dass Risikopatienten, zum Beispiel mit Adipositas oder entsprechenden Erbanlagen, gezielt auf Diabetes untersucht werden", sagt DDG-Vizepräsident Professor Dirk Müller-Wieland. "Deutschland hat bisher keine Strategie gegen zu viel Zucker und im Umgang mit ungesunden Lebensmitteln", kritisiert Dr. Kai Kolpatzik, Leiter der Abteilung Prävention im AOK-Bundesverband. Großbritannien reagiert jetzt mit einer Zuckersteuer auf Softdrinks.
In einem im Juli 2015 veröffentlichten Gesundheitsbericht zur Bekämpfung des Übergewichts in Großbritannien hat die britische Ärztegesellschaft (BMA) eine Schätzung veröffentlicht, nach der ungesunde Ernährung in Großbritannien jährlich 70.000 vorzeitige Todesfälle verursacht. Nach BMA-Angaben übersteigen die Kosten für die Folgen von Übergewicht die Ausgaben für die Bekämpfung von Alkoholmissbrauch, Rauchen oder körperlicher Inaktivität.
Die britische Ärzteschaft nahm dies zum Anlass, unter anderem eine Steuer in Höhe von 20 Prozent auf stark zuckerhaltige Getränke zu fordern. Im Gegenzug sollen beispielsweise Obst und Gemüse günstiger werden. Zudem sei Werbung für kalorienreiche Lebensmittel, die sich an Kinder richtet, zu verbieten.
Dunkelziffer liegt bei zwei Millionen Diabetesfällen
Die DDG und diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe halten eine Zuckersteuer auf Softdrinks wie in Großbritannien auch in Deutschland für überfällig. „Dieser Beschluss sollte uns in Deutschland ein Vorbild sein“, kommentierte Müller-Wieland die Pläne der britischen Regierung. Die Steuer setze den ökonomischen Anreiz, den Zuckergehalt in Getränken zu reduzieren. Das sei die richtige Strategie gegen Übergewicht und Diabetes Mellitus Typ II.
Bis zu zwei Millionen Menschen in Deutschland wissen nach DDG-Angaben noch nichts von ihrer Erkrankung. Diabetes wird demnach oft erst erkannt, wenn Patienten bereits Folgeerkrankungen haben. Das macht die Behandlung teuer: Während die Kosten normalerweise bei etwa 500 Euro pro Jahr lägen, erhöhten sie sich bei Komplikationen um das Vier- bis Achtfache, so die DDG.
Aber nicht nur Limonaden und Süßigkeiten enthalten viel Zucker, sondern auch vermeintlich gesunde Lebensmittel wie Frühstücksmüsli, Müsliriegel, Joghurt oder Smoothies. Dazu kommt die breite Palette der Low-Fat-Produkte, also Lebensmittel mit reduziertem Fettgehalt. Die Werbung verleiht diesen Nahrungsmitteln ein gesundes Image. Konsumenten haben nur geringe Chancen, die Strategie der Marketing-Spezialisten zu durchschauen.
Zahlen, Daten, Fakten und Gesundheitstipps
- AOK-Curaplan Behandlungsprogramme
bei Diabetes Mellitus Typ 2 und Diabetes Mellitus Typ 1 - Deutschen-Diabetes-Gesellschaft (DDG)
- Deutsche Diabetes-Hilfe
Hauptzielgruppe der Werbung sind Kinder. Eine umfassende Marketingmaschinerie nimmt mithilfe des Kinderfernsehens, mit produktnahen kleinen Computerspielen, sogenannten Advergames, und mit sozialen Medien die Jüngsten ins Visier. Der potenzielle Schaden ist groß. Die Kosten ernährungsbedingter Erkrankungen in Deutschland werden auf jährlich 70 Milliarden Euro beziffert.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte im März 2015 neue Empfehlungen zum Konsum von Zucker veröffentlicht. Wissenschaftliche Studien belegen, dass ein Anteil von weniger als zehn Prozent der Tagesenergiezufuhr an "freien Zuckern" – dazu zählen zugesetzter Zucker in Speisen und Getränken sowie Zucker, der von Natur aus in Honig, Sirup, Fruchtsäften und Fruchtsaftkonzentraten enthalten ist – das Risiko für Übergewicht, Fettleibigkeit und Karies verringert. Das entspricht bei Erwachsenen maximal rund 50 Gramm, bei Kindern rund 25 Gramm Zucker täglich. Die Bundesbürger verzehren durchschnittlich mehr als das Doppelte dieser Menge. Eine weitere Reduktion auf fünf Prozent ist nach WHO-Angaben empfehlenswert.
Ergänzend zu den WHO-Ergebnissen belegt auch einen Studie des Scientific Advisory Committee on Nutrition in Großbritannien den klaren Zusammenhang eines häufigen Konsums von sehr zuckerhaltigen Getränken mit dem Auftreten von Diabetes Typ 2. Beim Verzehr von Zucker, der natürlicherweise in Obst, Gemüse und Milch steckt, haben Forscher hingegen bisher keine negativen Folgen nachweisen können.
Umfrage: Genauso gefährlich wie Alkohol und Zigaretten
Die Sorge um die gesundheitsschädliche Wirkung des Zuckers ist mittlerweile auch in der deutschen Bevölkerung angekommen. Das zeigt eine aktuelle Umfrage von Insa Consulere im Auftrag des AOK-Bundesverbandes. Nach Ergebnissen der bundesweiten repräsentativen Befragung von 2.196 Frauen und Männern meint jeder Dritte, dass sein persönlicher Zuckerkonsum eine Gefahr für seine Gesundheit darstelle. Männer waren etwas besorgter als Frauen. 60 Prozent der Deutschen glauben, dass Zucker genauso süchtig macht wie Nikotin und Alkohol.
Auch die Politik sieht die Gefahren von zu viel Süßem. Mitte November hat der Bundestag in der abschließenden Sitzung zum Haushalt 2016 entschieden, dass die Bundesregierung eine Nationale Strategie zur Verringerung von Zucker, Salz und Fett im Essen mit zwei Millionen Euro fördern soll.
Zucker, aber auch Fette und Salz sollten gegen kalorienärmere beziehungsweise salzärmere Alternativen ausgetauscht oder die Menge des Zusatzes gesenkt werden, fordern Experten. "So hat etwa die größte britische Handelskette Tesco im September 2015 allen Zulieferern vorgeschrieben, Getränken für Kinder keinen Zucker mehr zuzusetzen", erläutert AOK-Präventionsexperte Kolpatzik. Eine verständliche Kennzeichnung von Lebensmitteln und ein Werbeverbot für kalorienreiche Lebensmittel im Kinderfernsehen könnten weitere Bausteine sein.
Trotz der zwei Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt besteht die Gefahr, dass Deutschland bei der Umsetzung der Strategie zur Zuckerreduktion ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte bleibt. DDG und diabetesDE plädieren seit langem für eine Zucker-Fett-Steuer, wobei gesunde Produkte wie Obst und Gemüse steuerlich entlastet werden sollen. Großbritannien ist hier ebenfalls Vorbild. "Eine solche Entschlusskraft wünschen wir uns auch von der Bundesregierun", meinte DDG-Geschäftsführer Dr. Dietrich Garlichs. Deutschland hinke in seinen Bemühungen um eine gesundheitsgerechte Umgestaltung der Lebensbedingungen vielen anderen Ländern hinterher. In Skandinavien gibt es seit vielen Jahren Zuckersteuern. Auch Frankreich, Belgien, Ungarn und Mexiko erheben Abgaben auf Getränke mit zugesetztem Zucker. Diese Länder hätten signifikante Erfolge hinsichtlich weniger Konsum und besserer Produktrezepturen erzielt, heißt es seitens der beiden Diabetesorganisationen.
Die Branche hat auf ihre Art reagiert: Die „Wirtschaftliche Vereinigung Zucker“ behauptete im November 2015 in einem Brief an die Mitglieder der Bundestagsausschüsse für Gesundheit sowie für Ernährung und Landwirtschaft und andere, dass Zucker nicht dick mache und Zuckerkonsum kein Risikofaktor für Typ 2-Diabetes sei. Parlamentarier wie Fachgesellschaften kommentierten dieses Schreiben kritisch.