Gemeinsam gegen süßes Gift
1. Zuckerreduktionsgipfel

(v.l.) Prof. Dr. Berthold Koletzko, Günter Tissen, Elvira Drobinski Weiß, Dr. Tanja Busse,
Dietrich Monstadt, Kordula Schulz-Asche, Martin Litsch.
(28.06.17) Unter dem Motto "Gemeinsam gegen süßes Gift" stand der erste Zuckerreduktionsgipfel. In Berlin diskutierten Vertreter aus Medizin und Wissenschaft, Politik, Verbänden und Wirtschaft auf Einladung des AOK-Bundesverbandes über Abhilfe. "In Sachen Zuckerreduktion ist Deutschland ein Entwicklungsland", kritisierte eingangs Vorstandschef Martin Litsch. Die AOK will deshalb ein breites Bündnis schmieden: für klare und verbindliche Ziele zur schrittweisen Verringerung des süßen Giftes. Die Deutsche Diabetes- Gesellschaft und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sind bereits mit im Boot.
Zum Start der Kampagne "Süß war gestern" hatte der AOK-Bundesverband einen Pionier der "Action on Sugar"- Bewegung in Großbritannien eingeladen. Prof. Graham MacGregor nahm kein Blatt vor den Mund: "Zucker ist die einzige Ursache für Karies, hat großen Anteil an Fettleibigkeit und ist Risikofaktor ersten Ranges für Typ-2-Diabetes. Es ist lächerlich, dass wir es der Industrie erlauben, unsere Kinder damit vollzustopfen." Der Mediziner hatte genug davon, sich als Facharzt für kardiovaskuläre Erkrankungen nur mit den Folgen von zu viel Fett, Salz und Zucker im Essen zu beschäftigen. Mit viel öffentlichem Druck auf die Politik sorgten er und viele Mitstreiter dafür, dass sich die britische Regierung unter David Cameron das Thema zu eigen machte und gesetzliche Regeln auf den Weg brachte. MacGregors Rat: "Begeistern Sie Frau Merkel für das Thema. Sonst wird das nichts." In seinem Land habe bereits die Ankündigung der Strafsteuer erste Hersteller dazu bewogen, den Zuckergehalt in Getränken und Essen unter die erst ab 2018 geltenden Grenzwerte zu drücken, so MacGregor.
Gipfel-Agenda vom 28. Juni 2017
- Vormittagssession
10:00 Uhr Einlass
10:30 Uhr Begrüßung und Einführung
Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes10:45 Uhr Nationale Kampagne zur Zuckerreduktion "Consensus Action on Sugar and Health (CASH)" in Großbritannien
Prof. Graham MacGregor, Queen Mary University of London, Chairman CASH (Vortrag in Englisch)11:15 Uhr Gesundheitliche Auswirkungen durch steigenden Zuckerkonsum und Ansätze für Public-Health-Maßnahmen
Prof. Dr. Ilona Kickbusch, Graduate Institute of International and Development Studies, Genf11:35 Uhr Kindermarketing bei ungesunden Lebensmitteln - Welche Strategien nutzt die Industrie?
PD Dr. Tobias Effertz, Institut für Recht der Wirtschaft, Universität Hamburg
- Podiumsdiskussion
13:00 Uhr Förderung eines gesunden Zuckerkonsums - Welche Ansätze brauchen wir in Deutschland?
- Gerd Billen, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
- Elvira Drobinski-Weiß, MdB, SPD-Bundestagsfraktion, Verbraucherpolitische Sprecherin, Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Mitglied im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
- Dietrich Monstadt, MdB, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Mitglied im Gesundheitsausschuss, Berichterstatter für Medizinprodukte, Diabetes/Adipositas, Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
- Kordula Schulz-Asche, MdB, Bündnis 90/Die Grünen-Bundestagsfraktion, Sprecherin für Prävention und Gesundheitswirtschaft sowie für Bürgerschaftliches Engagement, Mitglied im Gesundheitsausschuss
- Prof. Dr. Berthold Koletzko, Pädiater und Vorsitzender Stiftung Kindergesundheit, Universitätsklinikum München
- Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes
- Günter Tissen, Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker e. V.
- Nachmittagssession
14:00 Uhr Erfolgsfaktoren zuckerreduzierter Lebensmittel - Heinz Tomato Ketchup mit 100 Prozent Geschmack und 50 Prozent weniger Zucker & Salz
Michael Lessmann, Head of Marketing Central Europe, The Kraft Heinz Company14:20 Uhr LIDL-Reduktionsstrategie 2025 - 20 Prozent weniger Zucker sind machbar
Jan Bock, Geschäftsleiter Einkauf, Lidl Deutschland14:40 Uhr Kaffeepause
15:10 Uhr Nutzen einer laienverständlichen Lebensmittelkennzeichnung in Deutschland
Sophie Herr, Leiterin des Teams Lebensmittel, Verbraucherzentrale Bundesverband15:30 Uhr Zuckerreduktion ist Zuckerersatz - Was bedeutet das für unsere Lebensmittel?
Günter Tissen, Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker e. V.15:50 Uhr Gesundheitskompetenz von Eltern zum Zuckerkonsum ihrer Kinder
Mattea Dallacker, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin16:10 Uhr Verabschiedung
Dr. Kai Kolpatzik, Leiter der Abteilung Prävention, AOK-BundesverbandModeration: Dr. Tanja Busse
Tabakkampagne als Vorbild

Prof. Dr. Graham MacGregor
Inzwischen führten bereits sieben EU-Länder Steuern oder gesetzliche Zielvorgaben ein. Deutschland belässt es bislang dagegen bei reinen Absichtserklärungen und setzt auf freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie. Doch davon sei wenig zu erwarten, betonte neben Prof. MacGregor auch Prof. Ilona Kickbusch. Die Expertin für Public Health erinnerte an jahrzehntelange Auseinandersetzungen mit der Tabakindustrie. Angesichts der Werbemilliarden für Fastfood oder Süßigkeiten seien Aufklärungskampagnen aussichtslose Unterfangen. Sie forderte die Abkehr von der Verhaltens- hin zur Verhältnisprävention mit gesetzlichen Vorgaben für Zucker-, Salz- oder Fettgehalt. Doch nicht ein Element allein führe zum Erfolg: "Wir brauchen eine Reihe von Maßnahmen in den verschiedenen Lebenswelten der Menschen. Lebenswelten sind Konsumwelten." Dem Beschwören der Konsumentensouveränität kann auch Dr. Dietrich Garlichs nichts mehr abgewinnen. "Damit erreichen wir nur die ohnehin Gesundheitsbewussten", sagte der Geschäftsführer der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Aktuell gebe es sieben Millionen Typ-2-Diabetiker. "Neben dem Leid des Einzelnen sind die volkswirtschaftlichen Kosten enorm. Allein die Behandlung des Diabetes und seiner Folgeerkrankungen kostet rund 35 Milliarden Euro pro Jahr."
Ohne Gesetz kein Erfolg

V. l.: Prof. Dr. Graham MacGregor, Prof. Dr. Ilona Kickbusch, Martin Litsch
Mehrfach wurde beim Gipfel gefragt, warum das Thema gesunde Ernährung nicht dem Bundesgesundheitsministerium, sondern dem eher an den Interessen der Nahrungsmittelindustrie orientierten Bundeslandwirtschaftsministerium zugeordnet sei. Mit der von CSU-Minister Christian Schmidt nach mehrjährigem Vorlauf erst im Juli - zu spät für den Bundestag, aber rechtzeitig zum Wahlkampf - ins Bundeskabinett gebrachten Reformulierungsstrategie ist selbst Fraktionskollege Dietrich Monstadt (CDU) unzufrieden. Der Unions-Gesundheitsexperte versprach, sich in der nächsten Legislaturperiode für eine ressortübergreifende Zucker-Initiative einzusetzen: "Ich glaube, dass wir ohne gesetzgeberische Maßnahmen nicht weiterkommen." Das sieht auch Martin Litsch so: "Die freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie bringt nullkommanull. Das gilt für die Nahrungsmittelkennzeichnung ebenso wie für einen Verzicht auf gezielte Lebensmittelwerbung für Kinder", betonte er in der Diskussion mit Monstadt und dessen MdB-Kolleginnen Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen) und Elvira Dobrinsky-Weiß (SPD).
Zum Thema "Kindermarketing" lieferte Dr. Thomas Effertz von der Universität Hamburg die wissenschaftlichen Belege. Er analysierte das Marketing der Süßwaren- und Nahrungsmittelindustrie. Sein Fazit: Trotz einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Industrie auf EU-Ebene haben die Werbeprofis Kinder nach wie vor im Visier. Mit lustigen Comics, Onlinespielen oder Apps üben sie auf allen für die Zielgruppe verfügbaren Informationskanälen Kaufdruck aus. Dass die Marketingstrategien nicht nur bei kleinen Kunden verfangen, zeigen die beim Zuckerreduktionsgipfel erstmals vorgestellten Ergebnisse einer Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und der Universität Mannheim. Danach unterschätzen Eltern den Zuckergehalt in Lebensmitteln erheblich. Die Wissenschaftler evaluierten das unter anderem am Beispiel eines handelsüblichen 250-Gramm-Fruchtjoghurts. "92 Prozent der befragten Eltern lagen daneben. Sie gingen im Mittel von vier Stück Würfelzucker aus. Tatsächlich sind es elf", sagte Institutsdirektor Prof. Ralph Hertwig. Mit dem Grad der elterlichen Fehleinschätzung steige zudem die Wahrscheinlichkeit von Übergewicht bei den Kindern.
Lebensmittel deutlich kennzeichnen

Prof. Dr. Ilona Kickbusch und Dr. Kai Kolpatzik
AOK und Diabetes-Gesellschaft sehen sich dadurch in ihrer Forderung nach einer laienverständlichen Lebensmittelkennzeichnung bestätigt. Der AOK-Bundesverband setzt sich weiter für die 2010 am Lobbydruck auf EU-Ebene gescheiterte Lebensmittelampel ein. Unterstützung dafür kommt auch vom Bundesverband der Verbraucherzentralen. Der Adipositasexperte Prof. Berthold Koletzko vom Universitätsklinikum München sagte: "Wir müssen es Eltern so leicht wie möglich machen, das Richtige für ihre Kinder auszuwählen.“ Ausdrücklich hatte die AOK auch Vertreter der Lebensmittelverbände eingeladen. „Wir können nur erfolgreich sein, wenn wir an einem Strang ziehen", sagte AOK-Präventionsexperte Dr. Kai Kolpatzik. Doch viele Lobbyvertreter kniffen. Nicht so Günter Tissen, Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker. Sein Credo: Nicht der Zucker macht dick, die Kalorien sind schuld. Eine Argumentation, die Prof. Koletzko aus medizinischer Sicht in Zweifel zog.
Als Vertreter der Zuckerwirtschaft warnte Tissen vor dem "Reformulieren". Denn dies bedeute nichts anderes, als "guten Rübenzucker" (Saccharose) durch nicht weniger gesundheitsgefährdende Fructose oder chemiekünstliche Süßstoffe zu ersetzen. Seinem Argument, dass man Übergewicht vor allem mit mehr Bewegung beikomme, hatte Graham MacGregor allerdings schon zuvor Luft abgelassen: "Um ein einziges BigMac-Menü abzutrainieren, muss man schon einen Halbmarathon laufen."

Endlich tut sich etwas in Sachen #wenigerZucker. Nachdem die Discounter Lidl, Rewe und REAL bereits eine Strategie zur Zuckerreduktion vorgelegt haben, verringert nun auch Edeka künftig den Zucker- und Salzanteil bei seinen Eigenmarken.
AOK fordert klares Maßnahmenpaket

Im Mai 2018 hat sich unterdessen ein Bündnis aus 15 Ärzteverbänden, Krankenkassen und Fachorganisationen in einem Offenen Brief an die Bundesregierung und Kanzlerin Merkel gewandt und konkrete Maßnahmen gegen Fehlernährung gefordert. "Bitte machen Sie ernst mit der Prävention von Adipositas, Typ-2-Diabetes und anderen chronischen Krankheiten", heißt es in dem Schreiben. "Dabei geht es nicht darum, süß oder salzig zu verteufeln", ergänzt der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch. Es gehe schlicht um ein weniger. Längst sei klar, dass sich die Lebensmittelindustrie nur auf Druck bewege. "Dazu brauchen wir erstens eine transparente und ehrliche Lebensmittelkennzeichnung, zweitens ein striktes Werbeverbot für das Kindermarketing von stark zucker-, fett- und salzhaltigen Lebensmitteln, und drittens müssen die Lebensmittelhersteller ihre Rezepturen beim Zucker-, Fett- und Salzgehalt anpassen", fordert Litsch.
Das Problem: Selbst wer bewusst weniger Zucker zu sich nehmen will, hat schlechte Karten. Denn das Süße steckt in fast allen Fertigprodukten - mehr oder weniger offen deklariert - und versteckt hinter 70 verschiedenen Begriffen wie Glucose, Dextrose oder Fructose. Vor allem den "versteckten Zucker" haben Mediziner und Präventionsexperten im Visier, wenn sie auf die Zunahme von Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen und zahlreiche Folgekrankheiten verweisen. "Deswegen freut es mich, dass die Ernährungsministerin eine Gesamtstrategie zur Kalorienreduktion angekündigt hat", sagt Litsch. "Und noch mehr freue ich mich, wenn darauf Taten folgen." Notfalls müsse der Staat eine Zuckersteuer erheben wie etwa in Großbritannien.